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Foto: Johanna Landscheidt

Radikal Human – Seenotrettung auf dem Mittelmeer

Seenotretterin Christina Schmidt berichtet im Interview mit der q.rage vom Alltag an Bord und ihren Begegnungen auf dem Mittelmeer.

Maxi, Lissy und Ramón

Liebe Christina, du warst als Seenotretterin bei verschiedenen Rettungseinsätzen auf dem Mittelmeer. Wie kam es zu der Entscheidung?

Das war eine ganz spontane, impulsive Entscheidung. Im Februar 2016 war ich beruflich auf Lampedusa und habe dort die Ankunft von Geretteten erlebt. Dann haben mir Bekannte von dem Projekt erzählt. Ich war dabei, als das Schiff zu seinem ersten Einsatz losfuhr. Das war eine ganz besondere Stimmung, die mich sehr berührt hat. In dem Moment war mir klar, dass ich an Bord gehen will, um aktiv etwas zu tun. Ich hatte schon als Jugendliche den Traum, auf einem Schiff zu arbeiten. Wie sieht ein Tag an Bord aus? Gibt es so etwas wie Routine oder ist jeder Tag eine neue Herausforderung? Jeder Tag ist anders. Jede Situation ist anders. Routine kommt da nicht auf. Das Wetter spielt eine große Rolle und auch, wie viele Boote unterwegs sind.

Die Brückenwache hält regelmäßig Ausschau nach Booten. Die sind so winzig auf dem riesengroßen Meer. Da musst du sehr konzentriert sein. Wenn wir ein Boot entdecken, wissen wir nie, was uns erwartet – wie voll und stabil die Boote sind, ob sie kurz vorm Sinken sind, ob schwangere Frauen, Neugeborene, Schwerverletzte oder sogar Tote dabei sind. Das haben wir alles erlebt. Bei meiner ersten Mission mussten wir 22 Tote bergen. Auf solche Situationen kannst du dich nicht vorbereiten. Es gibt viele Trainings an Bord, wo wir bestimmte Abläufe lernen und immer wieder üben. In der konkreten Situation musst du schnell und flexibel reagieren. Das  erfordert höchste Aufmerksamkeit und Teamarbeit bis zum letzten Moment.

Der Alltag an Bord

Gab es auch mal brenzlige Situationen?

Ja. Kritisch sind die Situationen, wenn wir uns etwa einem Schlauchboot nähern, das mit viel zu vielen Menschen ohne Rettungswesten überladen ist. Wenn sie ins Wasser fallen oder springen, dann verlieren wir sie, weil die Meisten nicht schwimmen können. Viele kennen nicht mal ein Wort für das Meer. Sie denken, das ist ein großer Fluss. Wenn sie von der libyschen Küste losfahren, werden sie belogen. Ihnen werden die Lichter der Ölplattformen vor der Küste gezeigt: „Da vorne ist Italien!“ Dass die rettende italienische Küste aber hunderte Seemeilen entfernt ist und sie die Strecke in dem Gummischlauchboot niemals schaffen werden, wird ihnen verschwiegen. Die Menschen werden aufs Meer hinaus geschickt – mit einer absoluten Gleichgültigkeit, was mit ihnen passiert.

Wie geht es weiter, wenn sie an Bord kommen?

Die MS Aquarius von SOS Méditerranée kann 500 bis 600 Menschen aufnehmen, es waren aber auch schon mehr als 1000. An Bord werden sie medizinisch versorgt, ihnen wird ein Rescue-Kit mit Decke, Essen und Kleidung gegeben und ein Platz zugewiesen – den Männern an Deck, den Frauen und Kindern im Shelter, dem Schutzraum für Verletzte in der Schiffsklinik von Ärzte ohne Grenzen. Irgendwann, wenn Ruhe einkehrt und jeder seinen Platz hat, wird auch mal auf selbst gebastelten Spielbrettern aus Pappe und mit Deckeln von den Mineralwasserflaschen Dame gespielt. Je nachdem, welcher Hafen angesteuert wird – ob Sizilien, Kalabrien oder Sardinien – kann die Reise auch mal zwei bis drei Tage dauern. Da ist viel Zeit, um miteinander zu reden.

Gibt es eine Geschichte, die dich besonders berührt hat?

Ja, da gibt es viele. Bei meiner allerersten Rettung im Juni 2016 hatte uns die Rettungsleitstelle morgens um acht Uhr informiert, dass drei Boote unterwegs waren. Das erste Boot fanden wir am Vormittag, bis Mittag war die Rettungsoperation ausgeführt. Das zweite Boot hatte die italienische Küstenwache mittags gefunden und gerettet. Das dritte Boot suchten wir den ganzen Tag, bis in die Nacht hinein, und fanden es glücklicherweise gegen Mitternacht. Unter diesen Geretteten war eine junge Frau, die bei uns an Bord ihren Verlobten wiederfand. Die beiden standen drei Tage an Deck und umarmten sich. Sie waren auf der Flucht getrennt worden und auf unterschiedliche Gummiboote gekommen und wussten nichts voneinander. Sie hatten mit dem Schlimmsten gerechnet und sich dann so wiedergefunden.

Ständiges Standby

Hattest du auch mal Angst bei den Einsätzen?

Nein. Ich war seekrank, ich war erkältet und hatte Fieber, zwischendurch ging es mir physisch nicht so gut, aber ich hatte keine Angst. Die Geretteten, die wir an Bord holten, waren in einem so schlechten Zustand, das könnt ihr euch nicht vorstellen. 99 Prozent waren barfuß, sie trugen vielleicht eine Hose und ein T-Shirt, manche nicht mal das. Wenn sie die Boote besteigen, müssen
sie alles zurücklassen. Kein Gepäck. Keine Reserven. So sitzen sie dicht gedrängt viele Stunden in überladenen Schlauchbooten. Die Boote liegen so tief im Wasser, dass Seewasser hinein schwappt und sich mit dem Benzin der Außenbordmotoren mischt. Diese Mischung aus Seewasser und Benzin ergibt eine chemische Säure, die Verätzungen hervorruft, die Benzindämpfe verursachen Halluzinationen. Dazu kommen Urin, Kot und Blut. Und mitten in diesen Booten sitzen sie stundenlang.

Viele kommen mit Wunden, mit Folterspuren, mit Verletzungen. Die Menschen sind gezeichnet durch ihre Zeit in den Gefangenenlagern, durch die Folter, durch den Hunger, durch die unmenschliche Behandlung, die sie erfahren haben. Die meisten Frauen haben sexuelle Gewalt erlebt. Ein Junge hatte eine tiefe Schnittwunde am Arm. Er war mit einer Glasscherbe gefoltert worden, die Wunde war schlecht verheilt, weil sie einfach nicht behandelt wurde. Er hätte an dieser Verletzung sterben können. In solchen Begegnungen treten meine Gefühle und Sorgen komplett in den Hintergrund. Ich bin dann ganz bei den Menschen, sorge mich um sie. Da geht es nicht um mich oder um uns als Team, wir sind dort, um diesen Menschen zu helfen.

Hattest du jemals den Gedanken, die Mission abzubrechen?

Niemals. Im Gegenteil. Es ist so schwer, nach Hause zu fahren und sich zu lösen. Nach meiner ersten Mission war das so stark, ich wollte sofort wieder los, konnte einfach nicht abschalten. Ich war mit dem Herzen und in Gedanken immer noch an Bord. Dieses Zurückgehen in den Alltag ist eigentlich das Schwierige. Am liebsten würde man einfach weitermachen, weil man weiß, dass
da draußen Menschen in Gefahr sind und vielleicht sterben, weil wir nicht da sind. Solange du an Bord bist, bist du angespannt. Du bist ständig im Standby. Erst später, wenn du von Bord gehst und nach Hause fliegst, fällt die Anspannung ab.

Dann erst spürst du die Erschöpfung und Müdigkeit. Dann kommt der Moment, wo Flashbacks kommen, Erinnerungen an kritische Rettungen, wo wir Leute kurz vor dem Ertrinken aus dem Wasser gezogen haben, wo einige panisch ins Wasser gesprungen sind, weil ihr Boot am Sinken war. Du hörst wieder die Schreie der Menschen und spürst ihre Ängste. Alles kommt immer wieder. Die Rückkehr in den gewöhnlichen Alltag ist echt hart.

Kaum Anerkennung

Bekommt ihr Anerkennung und Unterstützung für eure Arbeit von der Politik in Deutschland und der EU?

Als europäische NGO erhielt SOS Méditerranée Auszeichnungen wie den UNESCO-Friedenspreis, die Carl-von-Ossietzky-Medaille, den deutsch-französischen Medienpreis. Es gibt auch Abgeordnete im EU-Parlament und im Bundestag, die uns unterstützen. Doch von der Bundesregierung zum Beispiel gibt es überhaupt keine Unterstützung. Tatsache ist, wir arbeiten als zivile Seenotrettungsorganisation vor Ort, weil Europa nichts macht.

Nach der großen Bootskatastrophe vor Lampedusa am 03.10.2013 begann die Seenotrettungsoperation Mare Nostrum, die Italien allein gestemmt hat. Nach einem Jahr endete die Operation, obwohl klar war, dass weiterhin voll besetzte Boote unterwegs waren und Menschen ertranken. Seit 2015 gründeten sich Nichtregierungsorganisationen wie Sea-Watch und SOS Méditerranée, um in diese Lücke zu springen. Wir mussten das machen, weil die staatlichen Militär- oder Rettungsschiffe nur Schlepper bekämpfen und Grenzen schützen wollten. Ein klares Statement der Bundesregierung für die zivile Seenotrettung wäre für unsere Arbeit sehr hilfreich gewesen.* Wir wurden angegriffen und kriminalisiert. Es gab auch Hetzkampagnen gegen SOS Méditerranée. Ich hätte mir hier mehr öffentliche Solidarität und Gegenrede gewünscht.

Gab es sonst keine Unterstützung?

Doch, es gibt viele Freiwillige, die sich engagieren und wir erhalten Spenden von Privatpersonen, von kirchlichen und Wohlfahrtsorganisationen, aus der Wirtschaft. Bei unserer Kampagne „Menschlichkeit spenden“ haben sich Prominente wie Herbert Grönemeyer, Heike Makatsch oder Bjarne Mädel mit Rettungsweste fotografieren lassen und für die zivile Seenotrettung ausgesprochen. Es gibt also Unterstützung aus der Zivilgesellschaft, aber ein „Ich finde das toll“ der Bundeskanzlerin hätte auch eine starke Wirkung gehabt.* Man muss es immer wieder betonen, die zivilgesellschaftliche Seenotrettung auf dem Mittelmeer finanziert sich ausschließlich durch private Spenden.

Jedes Leben ist schützenswert

Du sprichst von einem radikal humanistischen Ansatz, wenn du Menschenleben rettest. Welche Argumente würdest du empfehlen, um auch die Menschen zu erreichen, die dafür
erstmal nicht offen sind?

Ich stelle zum Beispiel immer die Frage, was wäre, wenn nicht afrikanische Menschen auf diesen Booten wären, sondern Deutsche, Italiener oder Franzosen. Wie würde Europa reagieren? Stell dir vor, das wären deine Schwester, deine Mutter oder dein Freund. Ihr kennt sicher die Geschichten von Leuten, die auf Kreuzfahrtschiffen über Bord gehen, wie Daniel Küblböck. Die werden tagelang gesucht und in allen Medien wird voll Empathie darüber berichtet. Als dieser spanische Junge in ein Bohrloch gefallen war, wurde alles in Bewegung gesetzt, um ihn retten. Das ist richtig und gut so. Doch was ist mit den tausenden Menschen, die über das Mittelmeer fliehen, die in Lebensgefahr sind?

Da stellt sich Europa blind und taub. Jedes einzelne Menschenleben ist wertvoll und schützenswert, egal ob es ein kleines Mädchen aus Eritrea ist oder ein Großvater aus Deutschland. Auf dem Mittelmeer haben so unfassbar viele Menschen ihr Leben verloren, dass es für den menschlichen Verstand nicht begreifbar ist. Das hat eine Dimension erreicht, wo die meisten Menschen einfach wegsehen und wegschalten.

Du bist wütend, das merkt man.

Ja. Die Menschen auf den Booten sind für mich Survivors. Das sind Überlebende, die schon die Flucht durch die Sahara, die Gefangenenlager in Libyen und die Fahrt über das Mittelmeer überlebt haben. Das sind Menschen, die schwer traumatisiert sind, die unsere Hilfe und unsere
Solidarität brauchen. Ich frage mich, wie wir diesen Menschen begegnen? Was sind das für Werte? Europa ist ein reicher Kontinent. Wir hätten genug Platz und Ressourcen. Wir müssen uns immer wieder klar machen, dass es hier um Menschen geht. Es geht um das Leben jedes einzelnen Menschen, um seine Lebensgeschichte, seine Träume und Hoffnungen, mit denen er sich irgendwann auf die Reise machte oder machen musste. Es ist die Hoffnung, einen sicheren Ort zu finden, um ein neues Leben beginnen zu können. Wie gehen wir als Europäerinnen und Europäer mit diesen Menschen um?

Wann endet eure Arbeit?

Unsere Arbeit ist beendet, wenn die Menschen von Bord gehen. Nach dem Einlaufen in einen sicheren Hafen kommt die Gesundheitskommission an Bord und verhängt eine Quarantäne. Alle Menschen werden auf Infektionskrankheiten und schwere Verletzungen untersucht. Bei der Ausschiffung gehen die Schwerverletzten als erstes von Bord. Dann folgen Frauen und Kinder, also die Familien und die unbegleiteten Minderjährigen.

Ungefähr ein Viertel der Geretteten bei uns waren unbegleitete Minderjährige, die als besonders gefährdet und schutzbedürftig gelten. Die Männer sind dann zum Schluss dran. Wir stehen immer an der Gangway und verabschieden die Menschen. Oft gibt es Umarmungen, Tränen. Die Menschen sind froh, endlich festen Boden unter den Füßen zu haben. Wir wissen, dass die Reise für sie noch lange nicht beendet ist. Ihnen stehen noch enorme Schwierigkeiten bevor, viele werden keine Aufenthaltserlaubnis bekommen. In diesem Moment müssen wir aber loslassen, wir haben keinen Einfluss mehr darauf, wie es ihnen in Europa ergehen wird.

Vielen Dank für das Gespräch und großen Respekt vor deiner Arbeit!

CHRISTINA SCHMIDT (*1963) war als Seenotretterin auf mehreren Rettungsaktionen mit der Organisation SOS Méditerranée. Sie lebt in Deutschland und Italien.

*Anmerkung der Redaktion: Im August 2019 forderte Angela Merkel eine Wiederaufnahme der europäischen Seenotrettungsmission.

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Dieser Text erscheint in unserem Magazin q.rage Nr. 12.

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