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Foto: unsplash.com/benostrower

Vom Rassenfeind zum Ehrenbürger

Die 19-jährige Mia erzählt die Geschichte des Werner Gottlieb, der als Kind einer jüdischen Familie in ihrem Ort gelebt hat und im zweiten Weltkrieg vor den Nationalsozialisten in die USA geflohen ist. 75 Jahre später ist er Ehrenbürger der Gemeinde Frankenwinheim.

Mia (19)

Jeder von uns hat in der Schule schon über dieses Thema geredet. Viele sagen sogar, sie sind schon genervt davon. Sie meinen, dass sie jetzt schon alles daüber wissen und sich nicht weiter damit beschäftigen wollen. Ja, es geht um Judenhass in Deutschland während des Zweiten Weltkriegs. Der Krieg kostete Millionen von Juden das  Leben und zwang sie, ihre Heimat zu verlassen, weil sie nicht mehr in Sicherheit leben konnten. So ging es auch Werner Gottlieb.  Er wuchs in dem kleinen Dorf Frankenwinheim bei Gerolzhofen auf. 90% der Bevölkerung Frankenwinheims waren katholisch, während der andere Teil jüdisch war. Werner erinnert sich, dass alle Mitglieder der Gemeinde in Frieden miteinander lebten und die Christen und Juden immer respektvoll miteinander umgingen.

Erstarken der Nationalsozialisten

Doch das Aufkommen des Nationalsozialismus machte keinen Bogen um das kleine Frankenwinheim und auch dort waren bald die Folgen der nationalsozialistischen Denkweise zu spüren. In der Schule begann Werners Lehrer die Rassenlehre der Nazis zu unterrichten. Die Schüler lernten, wie angeblich schlecht und unmenschlich sich die Juden gegenüber den „Ariern“ verhielten. Das trifft ein jüdisches Kind natürlich sehr, und als Werner fragte, ob der Lehrer es ihm genauer erklären könnte, antwortete dieser nur:

Nun, wir reden hier nicht über Frankenwinheimer Juden, die sind anders; wir reden über fremde Juden und über die Juden in den großen Städten.

Doch Werner verstand die Situation nicht, weil auch er Verwandte in der Stadt hatte. Später wurden die jüdischen Kinder sogar von den anderen Schülern weggesetzt. Werner wurde gesagt, dass er so gut in der Schule sei, dass die anderen Schüler von ihm abschreiben würden, wenn sie neben ihm sitzen würden. Auch außerhalb der Schule spürte er den Anstieg des Judenhasses in der Region. Er hörte von den “Konzentrationslagern”, wohin Juden verschleppt wurden, nur weil sie Juden waren. Zudem begann er nun immer öfter, junge Männer in Uniformen zu sehen, die Lieder sangen, die sich eindeutig gegen Juden richteten. Verse wie „Wenn das Judenblut vom Messer spritzt…”, brannten sich in das Gedächtnis des Jungen ein.

Werner flüchtet in die USA

Um seine Familie zu schützen und um nicht Opfer der Nazis zu werden, entschließt sich Werners Vater, Max Gottlieb, seine Heimat zu verlassen und mit Frau und Kindern in die USA auszuwandern. Am 27. September 1937 wurde die Familie Gottlieb von einem Bekannten abgeholt und verließ Frankenwinheim.

Werner erinnert sich, dass sich alle Dorfbewohner vor ihrem Haus versammelten und sie bei ihrem Aufbruch beobachteten. Obwohl alle da waren, war es komplett still und keiner verabschiedete sich oder winkte ihnen zum Abschied.

Diese Stille hielt 50 Jahre an.

In dieser Zeit hatte Werner die Schule abgeschlossen, studiert, sich eine Karriere als Psychologe erarbeitet, geheiratet und eine Familie gegründet. In all dieser Zeit wollte er nicht nach Frankenwinheim zurückkehren, obwohl er sogar einmal die Möglichkeit dazu hatte. Im Zweiten Weltkrieg kämpfte Werner für die USA und war bei nicht weit entfernt von Frankenwinheim stationiert. Jedoch hatte er kein Interesse, seinen alten Heimatort zu besuchen. Zu groß war der Hass gegenüber den Deutschen, von denen viele den Holocaust leugneten. Er erwähnt eine Situation, als er einen SS-Offizier festgenommen und überlegt hat, ob er ihn erschießen oder ihm etwas anderes zufügen sollte. Als er realisierte, dass er kurz davor war, wie ein Nazi zu handeln, war er sehr erschrocken. Er entschloss sich letztlich dafür, ihn zu den anderen Gefangenen ins Lager zu bringen. Obwohl Werner diese Wut gegenüber Deutschland in sich hatte, verschonte er den Offizier.

Rückkehr nach Deutschland

Ein Versprechen an seine Großmutter führte Werner dann schließlich im Oktober 1987 wieder nach Deutschland. Bevor sie 1937 die Heimat verließen, wurde ein Grabstein für Werners Großeltern errichtet. Um den Namen seiner Großmutter, die in Theresienstadt starb, in den Stein einzugravieren, reiste Werner mit seiner Frau Shirley nach Gerolzhofen. Er hatte nicht die Absicht, Frankenwinheim zu besuchen. Doch es wurde schnell in der Umgebung bekannt, dass Werner in Gerolzhofen war. So geschah es, dass sich ein alter Schulkollege namens Josef bei Werner Gottlieb und seiner Frau meldete und sie zu sich nach Frankenwinheim einlud.

Obwohl sich Werner nicht richtig an ihn erinnerte, akzeptierten er und seine Frau die Einladung und besuchten Josef und seine Gattin in ihrem Zuhause in Frankenwinheim. Zunächst war die Stimmung etwas merkwürdig, doch nachdem sie sich in einem Mix aus Englisch und Frankenwinheimer Dialekt über ihr Leben und Kindheitserinnerungen unterhielten, brachte sie das wieder näher zusammen, als Werner erwartet hatte.

Als er Frankenweinheim vom Weitem sah, war es genau, wie er es in Erinnerung hatte: mit der Kirche und ihrem Kirchturm in der Dorfmitte, mit den Häusern und Scheunen. Doch eine Sache war anders: Die Synagoge des Dorfs war eine Ruine. Wo sich einst die Fenster befanden, waren nur noch Scherben und verrottetes Holz. Wo einst die Mikvah (traditionelles jüdisches Bad) war, waren nun nur noch Ziegel, ein Stapel Holz und anderer Müll. Werner realisierte, dass die Synagoge seit der „Kristallnacht“ vor 50 Jahren nicht mehr berührt worden war. Nur die großen Eisentüren der Synagoge waren noch an ihrem Platz. Die Synagoge seiner Kindheit in solch einem schrecklichen Zustand zu sehen, war sehr hart für Werner.

Seine Gefühle überwältigten ihn und er sank zu Boden mit Tränen in den Augen. Sein Freund, der ihn zur Synagoge begleitete, kniete sich neben ihn und nahm ihn in den Arm. Werner erinnert sich nicht mehr, wie lange sie dort in Stille saßen, aber es war der Beginn einer Freundschaft, die ihm später half, Versöhnung mit seinem Heimatdorf zu finden. Als Werner und seine Frau Frankenwinheim wieder verließen, versprachen sie, Kontakt mit Josef zu halten, was sie auch einhielten. Sie tauschten regelmäßig Neuigkeiten und Bilder aus, aber Politik und Nazi-Vergangenheit wurden nie besprochen. Tragischerweise wurde bei Josef zwei Jahre nach ihrem ersten Treffen Magenkrebs diagnostiziert und er verstarb kurze Zeit später. Dieser Verlust traf Werner sehr. Durch diesen gemeinsamen Schmerz kam er Josefs Familie, die sehr schwer mit dem Verlust des Vaters zu kämpfen hatte, näher.

Erinnerung und Versöhnung

Werner machte einen großen Schritt in Richtung Versöhnung, als ihn meine Mutter Gudrun im Frühling 1988 kontaktierte und ihn um Hilfe bei ihrer Facharbeit fragte. Der Titel ihrer Facharbeit war „Die Geschichte der Juden in Frankenwinheim seit 1349“. Darin beschäftigte sie sich auch mit der Frage, warum viele Menschen 50 Jahre nach der Pogromnacht immer noch so viel Angst haben, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen. Werner stellte ihr gern Informationen bereit und ließ sich auch von ihr für ihre Facharbeit interviewen.

Werners zweiter Besuch in Frankenwinheim war im August 1992. Er wollte eine Fahrradtour durch Frankenwinheim und die umliegenden Dörfer machen, um den Weg zu fahren, den früher sein Vater und Großvater als Viehmakler gingen. Er besuchte die alten Marktplätze und Gasthäuser, wo sie damals ihre Geschäfte machten und es überraschte ihn, dass diese Plätze immer noch genau so existierten, wie er sie in Erinnerung hatte.

Als in Frankenwinheim ein Denkmal mit den Namen aller jüdischen Mitbürger, die im Holocaust verstarben, errichtet wurde, war das ein großer Schritt, der Werner bei seiner Versöhnung mit seinem Heimatdorf half. Er wurde als Redner eingeladen. In seiner Rede beschrieb er jeden Juden in Frankenwinheim, wie er es in Erinnerung hatte.

Im April 2012 wurde Werner Gottlieb zum Ehrenbürger von Frankenwinheim ernannt. Diese Ehre erhielt er aufgrund seiner wichtigen Rolle auf dem Weg der Vergebung und der Versöhnung mit der Vergangenheit Frankenwinheims. Ein Zitat aus seiner Urkunde sagt:

„Dieses Zeugnis fordert uns Lebende dazu auf, die Probleme der Gegenwart in der Gegenwart zu lösen.“

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Der Artikel ist in der Schülerzeitung PEERplus des Egbert Gymnasiums erschienen. Die Schülerzeitung PEERplus wurde 2019 als beste Schülerzeitung Deutschlands ausgzeichnet.

 


 

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Lesermeinungen

  1. Andreas Westphal
    15.04.2019

    Ein ergreifender Aufsatz. Den Lebenden zur Mahnung: Nie wieder!

  2. J. Schemel
    25.08.2019

    This is a story that should be read by all students who want to reflect upon what happened to Jews in the NS era, which is not so long ago, with the goal of preventing the younger generations becoming blind to the racism in our present times. The inspiration needed to stop racism lies in the hearts of our younger generations, who Need to push their parents and teachers, politicians and laypeople into active self-reflection on this critical theme. It is a well-written piece, personal yet with a distanced, journalistic eye. Very good Quality. One Story of millions that must be told and re-told into infinity.

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