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Foto: picture alliance / abaca | Depo Photos/ABACA

Was hältst du eigentlich von Erdoğan?

Vor der Stichwahl um das Präsidentenamt in der Türkei wird unsere Autorin noch öfter als sonst mit der Gretchenfrage konfrontiert – und ist nur noch genervt.

Amira (18)

Ich sitze neben meiner Freundin in einem niedlichen Restaurant in der Innenstadt von Heidelberg. Uns gegenüber sitzen zwei Jungs, deren Namen in der allgemeinen Kennlernrunde leider vollkommen an mir vorbeigerauscht sind. Meine Freundin scheint sich bestens zu amüsieren – das wäre dann wenigstens eine von uns.

Das Gespräch geht gerade um das Reisen. Eigentlich eines meiner Lieblingsgesprächsthemen, aber seit 20 Minuten drehen wir uns im Kreis. Es ist eine Qual – und nachdem einer der beiden Jungs den Namen der türkischen Stadt Kahramanmaraş, die kürzlich von einem Erdbeben heimgesucht wurde, zum dritten Mal falsch ausgesprochen hat, kann ich nicht länger an mich halten und stoße, etwas zu entnervt, laut hörbar die Luft aus. Kahramanmaraş, mit S-C-H am Ende, und du vergisst die ganze Zeit eine Silbe in der Mitte, werfe ich ihm ins Gesicht. Es tritt eine angespannte Pause ein.

Gut möglich, dass mein Tonfall zu harsch ist. Wahrscheinlich bin ich auch schon genervt, dass ich mich selbst in diese unliebsame Situation hineinmanövriert habe, denn ich weiß schon, was kommt.

Du kommst doch aus der Türkei, oder nicht?

Ach, stimmt ja, nimmt mein Gegenüber das Gespräch wieder auf. Du kommst doch aus der Türkei, oder nicht? Das gibt einen Pluspunkt dafür, dass er meinen kleinen Ausbruch einfach kommentarlos übergeht. Aber leider auch einen Minuspunkt, weil ich vor 10 Minuten schon erzählt habe, dass mein Vater Türke ist und ich deshalb meine Sommer immer dort verbringe.

Ich nehme den Faden trotzdem auf: Jedenfalls fast, antworte ich und versuche mich an einem kleinen Lächeln. Meine Mutter ist Deutsche und mein Vater ist Türke. Ich lebe allerdings schon seit meiner Kindheit hier in Deutschland.Cool, ich fand die Türkei schon immer richtig anziehend, beteiligt sich nun auch Junge Nr. 2 am Gespräch, die Strände sehen so toll aus auf Fotos.

Klar, die Strände sind toll, kontere ich, aber ich persönlich mag die Berge bei uns lieber.

Also einer meiner Freunde war mal in Antalya oder so, an der Küste auf jeden Fall, macht Junge Nr. 2 weiter, als hätte ich nichts gesagt, und der hat mir erzählt, dass er dort so viele Schnäppchen machen konnte, weil die Leute so leicht abzuziehen waren.

Junge Nr. 2 sieht richtig begeistert aus, während er weiterspricht: Mein Freund meinte, dass die Verkäufer dort von ihren Fake-Sachen sowieso viel zu viel in ihren Lagern haben und deswegen alles loswerden müssen. Die sind froh, wenn sie noch ein paar Euro für ihr Zeug bekommen.

Ich bin mir so langsam nicht mehr sicher, ob ich mich hier noch wohlfühle.

Seit Erdoğan Präsident ist, kann man in der Türkei gar nicht mehr richtig Urlaub machen.

Aber seit dieser Erdoğan der Präsident ist, ist die Türkei einfach nur noch so was von, wie sagt man, konservativ geworden, pff, man kann gar nicht mehr richtig Urlaub machen dort, echt schade eigentlich – Junge Nr. 2 zuckt die Schultern und greift nach seinem Cola-Glas.

Ich frage mich, ob Junge Nr. 2 überhaupt weiß, was das Wort konservativ bedeutet, oder ob er generell gern mit großen Wörtern und Meinungen um sich wirft und hofft, dass niemand in seiner Umgebung es besser weiß oder sich traut, ihm zu widersprechen.

Bevor ich mir Gedanken darüber machen muss, wie ich auf diese Aussage antworten soll, taucht unser Essen auf. Ich bedanke mich bei dem Kellner, als er uns das Essen hinstellt und uns einen guten Appetit wünscht.

Die Worte von Junge Nr. 2 kratzen an mir. Mich stört, wie er über die Menschen in Antalya gesprochen hat. Aber kann ich von mir selbst denn behaupten, dass ich mich jemals sonderlich für die türkische Politik interessiert hätte? Klar, Recep Tayyip Erdoğan, das sagt mir was. Der seit fast 20 Jahren amtierende Präsident ist mir natürlich ein Begriff. Und ja, irgendwie habe auch ich eine Meinung zu ihm, aber die habe ich mir zugegebenermaßen eher danach gebildet, was man Vater von ihm hält. Wann habe ich mich selbst, aus eigenem Antrieb, mal so richtig mit der türkischen Politik befasst? Wann habe ich mich hingesetzt und mal etwas gelesen, wann hat mich Erdoğan wirklich interessiert? Warum also stört es mich so sehr, wenn ich mich gezwungermaßen mit diesen Themen befassen muss?

Ist das wirklich das einzige Thema, das wir hier finden?

Nachdem wir uns alle einen guten Appetit gewünscht haben, greift Junge Nr. 1 das Gespräch wieder auf: Apropos Erdoğan, sagt er, das würde mich auch interessieren. Ist nächste Woche nicht die Stichwahl zwischen ihm und einem anderen Kandidaten, die entscheidet, wer der neue Präsident wird?

Ich seufze innerlich: Ist das wirklich das einzige Thema, das wir hier finden? Könnten wir nicht über etwas sprechen, bei dem ich mir meiner eigenen Meinung sicher bin?

Junge Nr. 1 sieht mich erwartungsvoll an, jetzt kommt sie, die gefürchtete Gretchenfrage: Was hältst du eigentlich von Erdoğan?

Mh, ja, schwierige Frage, würde ich am liebsten sagen – und es einfach dabei belassen. Stattdessen sage ich: Mh, ja, schwierige Frage, aber weißt du, mich interessiert es, ob es den Leuten, der Bevölkerung, gut geht. Wenn das nicht der Fall ist, dann muss wohl was bei der Regierung falsch gelaufen sein. Aber ich kenne jetzt nicht sein ganzes Wahlprogramm, falls du das meinst.

Eigentlich müsstest du doch voll informiert sein, das betrifft dich doch total.

Junge Nr. 1 runzelt die Stirn, er ist offensichtlich in Gedanken. Das ist immerhin mehr, als man von Junge Nr. 2 behaupten kann, denn der antwortet sofort: Aber bist du überhaupt Türkin, wenn es dich gar nicht interessiert, wer Präsident wird? Eigentlich müsstest du doch voll informiert sein über das ganze Drama, das sich da drüben abspielt, oder nicht? Das betrifft dich doch total.

Am liebsten würde ich ihm seine Cola über den Kopf kippen. Bist du denn immer über alle politischen Geschehnisse in Deutschland durchinformiert?, frage ich ihn. Ich weiß, dass ich etwas zu energisch werde.

Aber Junge Nr. 2 lässt sich nicht aus der Ruhe bringen: Nö, natürlich nicht, aber wir sind auch nicht so ein unterentwickelter Staat wie die Türkei. Schließlich müssen die Frauen dort immer noch Kopftücher tragen, oder nicht?

Das war’s. Das war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. Wieso werde ich in Gesprächen über die Türkei immer mit den gleichen ausgelutschten Klischees konfrontiert, die sich nie ändern, egal wie oft ich diese Missverständnisse klarstelle?

Ja, ich interessiere mich nicht wirklich für die türkische Politik. Ich hoffe einfach nur, dass die kommende Wahl jemand anderes als Erdoğan gewinnt, egal wer. Denn wenn ich sehe, wie die Menschen im Augenblick zu kämpfen haben mit dem abnehmenden Tourismus, mit der steigenden Inflation, mit einer Rente, die ein solcher Witz ist, dass die Menschen ewig arbeiten müssen, und Tausend anderen Problemen, dann will ich nur, dass diese Probleme behoben werden – egal von wem.

Ja, insofern betrifft mich die türkische Politik. Aber heißt das auch, dass ich mich kontinuierlich und in jeder freien Minute damit beschäftigen muss?

Schlussendlich weiß ich: Türkisch bin ich trotzdem.

Natürlich übertreibe ich, aber ich sehe einfach nicht den Unterschied zwischen mir und Junge Nr. 2, der es sich erlauben darf, das Nachrichtenschauen in Deutschland schleifen zu lassen. Warum muss ich als Halbtürkin bis ins Detail über das politische Geschehen in der Türkei informiert sein? Welche Erwartungshaltung ist das eigentlich?

Türkisch sein bedeutet nicht, jede Stadt zu kennen, über alles Auskunft geben zu können und den Tourismus-Guide zu spielen. Es bedeutet nicht, Dönerbox zu mögen und türkische Schimpfwörter in mein deutsches Vokabular aufzunehmen. Für mich bedeutet es, Menschen und Traditionen und Sitten zu kennen, und eine tiefe Verbindung zu spüren. Und wenn das bedeutet, dass ich nicht genau weiß, was Erdoğan seiner Wählerschaft verspricht, sondern nur weiß, dass es mit der derzeitigen Politik so nicht weitergehen kann – dann ist das so. Ich lächle Junge Nr. 2 an. Auf einmal bin ich ganz ruhig, denn ich weiß: Türkisch bin ich trotzdem.

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