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Foto: picture alliance / ZUMAPRESS.com | Md Rafayat Haque Khan

Wenn die Bubble platzt

Unser gutes Leben leisten wir uns auf Kosten anderer. Da hilft es auch nicht, den Müll zu trennen. Eine Kurzgeschichte aus der ersten Welt.

Marjam (17)

Ein Universum umspannt von Himmeln, die jetzt vor ihr liegen in der friedlichsten Großstadtidylle. Lärmende Kinder drüben auf den Spielplatz, rosarote Wolkentöne senken sich auf die Erde.

Erde und Himmel vereint im ewigen Kreislauf, aber schrill jault das Martinshorn des Rettungswagens an der ewig gefährlichen Kreuzung auf. Sie, das Mädchen, die Frau, die sie sein wird, fühlt die Verbundenheit mit dem Leben, während sie die Abfallsammelroute eines orangefarbenen Müllautos verfolgt. Der muffige Geruch des Mülls haftet schwer an den ersten süßen Düften des lila Flieders, unten vor der Einfahrt.

Das ist sie, steht zwischen zwei Welten – ewig unentschieden zwischen dem, was sie weiß und wissen möchte, und der Angst, die sie vor der Wahrheit hat. Sie fürchtet die spitze Nadel aus Tatsachen, die ihre friedliche, saubere Bubble zerstechen würde.

Sie weiß, dass die Kunststoffproduktion in den europäischen Staaten weiter exponentiell ansteigt. Im Jahre 1950 waren es noch 1,5 Millionen Tonnen, 2018 schon 359 Millionen Tonnen. Die EU steht einem weltweiten …

Sie erschrickt, wendet sich ab vom Fenster, rauft sich die Haare. Hastig schlägt sie die Fensterläden zu. Die monotone Radiomoderatorenstimme verstummt. Sie kann gerade nicht zuhören, kann nicht ertragen, dass der unbeschwerte Abend von der nervtötenden Stimme zerschnitten wird.

Sie weiß, dass sie damit aufhören muss, mit dem Rennen. Der Flucht vor den Problemen. Das Verstecken hat keinen Sinn, sie lassen sie nicht in Ruhe, aber wann hatte sie je den Anspruch auf Sinn?

Für sie ist es fast ein Spiel geworden, eines, das sie nicht gewinnen kann. Doch die Probleme lauern ihr zu jeder Zeit auf. Wie letztens in der Bahn, als auf dem Bildschirm die Kurznachrichten liefen. Menschen ertrinken im Mittelmeer. Russland führt einen Angriffskrieg gegen die Ukraine. 80 Millionen Menschen sind weltweit auf der Flucht. Deutscher Müll wird nach Asien importiert.

Vor ihrem inneren Auge türmen sich Müllberge auf. Altkleider, Elektroschrott, Plastikflaschen und Essensreste. Sie quellen aus verschnürten Plastiksäcken.

Jetzt sind sie da, die Probleme – sich zu wehren ist zwecklos.

Sie denkt an den Morgen, da hat sie den schwarzen Müllsack in die gelbe Tonne versenkt, froh, die lästige Aufgabe erledigt zu haben. Was wird aus ihm werden? Werden die Reste verbrannt, wie 60 Prozent des Plastikmülls in Deutschland, werden ihre Erdbeerjoghurtbecher und Brötchenverpackungen ein Wohnzimmer heizen? Oder landen sie auf solch einer Mülldeponie, die sie aus dem Fernsehen kennt?

Sie schaut auf ihre Hände. Gepflegte Hände, regelmäßig eingecremt. Die Fingernägel sind ordentlich gestutzt. Zu sauber, schießt es ihr auf einmal durch den Kopf.

Es war ein Gefühl der Erleichterung, als der schwarze, unästhetische Plastikbeutel im Schlund des Müllcontainers verschwand. Aber jetzt riecht sie den Geruch von schwelendem Abfall. Tonne um Tonne aufeinander geschüttet zu einem riesenhaften Berg, der ihr die Sicht auf den Sonnenuntergang nimmt. Ein Gestank nach Verwesung liegt in der Luft. Über ihrem Kopf ziehen Krähen ihre Kreise, sie suchen nach Essensresten. Und dann sieht sie die Menschen.

Kinder, junge Erwachsene, Greise erklimmen das Gebirge aus Abfall, das sich bis zum Horizont erstreckt. Auch sie auf der Suche. Mit den Händen klauben sie Wertmetalle aus Elektroschrott zusammen. Stochern im Abfall, durchwühlen schwarze Plastikbeutel. Beutel, von denen sie dachte, sie korrekt entsorgt zu haben.

Ein kleines Kind löst sich aus der Menschentraube und steht plötzlich neben ihr. Seine Haare liegen platt auf dem Kopf, die zierlichen Hände mit abgekauten Fingernägeln umklammern eine gelbe Plastikschnur, an der sie einen schwarzen Beutel hinter sich herschleift. Neben dem Kind erscheint der Plastiksack plötzlich sehr groß.

2021 wurden pro Kopf jährlich 39,1 Kilogramm Plastik verbraucht. 6,3 Millionen Tonnen Kunststoffabfall fielen 2021 allein in Deutschland an, davon mehr als die Hälfte Verpackungen, also Plastik, das direkt nach dem Auspacken weggeschmissen wird. 70 Prozent der Verschmutzung der Meere sind auf Einwegplastik zurückzuführen.

Das Kind schaut ihr direkt in die Augen, das Gesicht unbewegt, die Lippen fest geschlossen. Sprechen braucht es nicht, die Worte stehen bereits zwischen ihnen.

Warum? Warum lasst ihr uns ertrinken, ersticken in eurem Abfall?

Ein Schweißfilm hat sich auf ihre Haut gelegt, mal wird ihr heiß, dann wieder kalt. Sie sieht die Augen des Mädchens auf sich gerichtet, in der Luft liegt der beißende Gestank nach Verwesung, dort hinten immer noch die Menschen auf der Müllhalde.

Sie versucht ihre makellosen Hände zu verstecken. Sie kann es nicht mehr aushalten, konnte es nie. Sie weicht zurück, strauchelt, ihre weißen Sneaker verheddern sich im Plastikabfall.

Immer schneller und hastiger werden ihre Bewegungen. Rückwärts bahnt sie sich einen Weg durch das Müllgebirge. Es gelingt ihr sich umzudrehen, weg von den vielen Gesichtern, die sie fixieren. Doch sie stolpert, fühlt, wie sie den Halt verliert, und spürt keinen festen Grund mehr unter ihren Füßen. Die Woge aus Plastikteilen, Elektrogeräten, Essensresten und Altkleidern erfasst sie, reißt sie mit in den Strudel, und plötzlich weiß sie, dass sie ertrinken muss.

Während sie fällt, erblickt sie den Himmel und sieht die Krähenschwärme. Sie bedecken den Himmel. Ihr Krächzen ist rau und durchdringend, in den Krallen tragen sie Reste. Reste, die sie weggeworfen hat.

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