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Foto: picture alliance / Bildagentur-online/Fischer | Bildagentur-online/Fischer

Es ist okay, nicht okay zu sein

Immer mehr Jugendliche leiden an psychischen Erkrankungen. Unsere Autorin beschreibt, wie sie jeden Tag ums Überleben kämpft.

Nadine (18)

Sechs Uhr morgens. Ich schlage meine Augen auf und mein erster Gedanke ist, was mich heute wieder erwarten könnte. Vielleicht habe ich Glück, und es wird ein halbwegs erträglicher Tag. Oder ich habe Pech, und Panikattacken, Dissoziationen und Flashbacks erwarten mich nach einer Nacht voller Albträume und dem hin und her Wälzen.

Ich weiß, ich muss aufstehen, aber es fühlt sich an, als würde eine unglaubliche Schwere auf mir liegen. Als hätte ich einen Betonklotz auf meiner Brust, der mir das Aufstehen unmöglich macht. Alles fühlt sich wie eine undurchführbare Aufgabe an: duschen, essen, Zähne putzen.

Es ist wie ein Sog. Schreie, rennende Kinder, das Klingeln der Schulglocke, Schülermassen.

In der Schule angekommen, bin ich auf einmal wie in einem Sog. Schreie, rennende Kinder, das Klingeln der Schulglocke, Schülermassen. Ein Reiz folgt dem anderen. Mein Körper reagiert mit Magenschmerzen, Übelkeit und einem ständigen Zittern. Wann kann ich hier endlich wieder weg? Wie soll ich das alles hier schaffen? Ich kann nicht mehr.

Vorne an der Tafel erklärt der Lehrer gerade, wie Bruchgleichungen gelöst werden, und meine Hände beginnen zu zittern, mir wird heiß und kalt und meine Gedanken verschwimmen. Noch wackelig auf den Beinen verlasse ich den Raum und mache mich auf den Weg zur nächsten Stunde. Mein Kopf schmerzt und mein ganzer Körper ist angespannt. Jetzt braucht es nur noch einen kleinen Trigger, und mein eh schon instabiles Gerüst bricht endgültig zusammen. Aber das geht nicht, ich darf nicht instabil sein, ich darf nicht schwach werden, ich muss funktionieren, Leistung bringen. Denn was sollen denn sonst die anderen von mir denken? Wie soll ich denn später in einem Beruf funktionieren, wenn die Schule schon zu viel ist? Was soll aus mir denn bloß werden? Andere bekommen doch Hobbys, Freunde, Schule und Termine unter einen Hut. Warum schaffe ich das nicht?

Stell dir vor, du stehst in einem Raum, der sich mehr und mehr mit Wasser füllt. Wasser, das so kalt ist, dass es sich anfühlt, als würdest du mit Nadeln am ganzen Körper gestochen. Das eisige Wasser steigt von Minute zu Minute höher. Anfangs ist er noch in dir lebendig, der Wille zu überleben, aber je mehr Wasser in den Raum fließt, desto schwerer scheint deine Kleidung, desto sinnloser die eigenen Rettungsversuche, desto kleiner wird der Überlebenswille in dir. Und desto plausibler erscheint es, der Kraft des Wassers nachzugeben. Sich einfach sinken lassen, loslassen.

Die meisten Menschen wissen gar nicht, was es bedeutet, depressiv zu sein.

Wie viele Menschen mit Depressionen und anderen psychischen Erkrankungen kämpfe ich Tag für Tag gegen diese imaginären Wassermassen. Trotzdem glauben manche, sich ein Urteil bilden zu können. „Stell dich doch nicht so an, du kannst doch in deinen jungen Jahren noch gar nicht wissen, was richtige Erschöpfung ist, du hast doch noch nichts Anstrengendes geleistet.“

Ich habe das Gefühl, die meisten Menschen wissen gar nicht, was es bedeutet, depressiv zu sein. Das ist keine kurze Phase, die mit ein Mal frische Luft schnappen wieder vorbei ist. Das ist kein Trend, der Leute aus modischen Gründen dazu bringt, sich schwarze Kleidung anzuziehen und immer traurig auszusehen. Depression ist eine ernsthafte Erkrankung, die jeden einzelnen von uns treffen kann. Jeder Fünfte erkrankt im Durchschnitt in Deutschland im Verlauf seines Lebens einmal an Depressionen. Unter den 12- bis 17-Jährigen sind es drei bis zehn Prozent.

Ein gebrochenes Bein ist nach sechs Wochen Gips wieder zusammengewachsen. Aber psychische Erkrankungen brauchen Jahre, um zu heilen, ja sogar Jahrzehnte. Es dauert lange, bis man selbst versteht, woher die eigene Symptomatik kommt, welche Trigger bestimmte Zustände auslösen und wie man sich in solchen Momenten helfen kann. Therapie hilft einem dabei, sie ist Hilfe zur Selbsthilfe. Es ist ein langer Prozess, in dem man sich selbst besser kennenlernt, vergangene Dinge aufarbeiten kann, einen anderen Weg findet, damit umzugehen – und vor allem sich selbst zu akzeptieren und zu respektieren lernt.

Ich lerne Tag für Tag dazu, mit jeder Therapiesitzung, mit jeder Krise.

Ich bin 18 Jahre alt und lebe seit dem Ende der Grundschule mit den Symptomen von Essstörungen, Depressionen und einer posttraumatischen Belastungsstörung. Es war nicht immer einfach und das ist es auch heute noch nicht. Immer wieder gibt es Tage, an denen ich keine Kraft habe aufzustehen. An denen ich mich für meine Selbstverletzungsnarben hasse, an denen ich am Ende meiner Kräfte bin und am liebsten alles über Bord werfen und beenden würde.

Aber ich lerne Tag für Tag dazu. Mit jeder Therapiesitzung, mit jeder Krise, die ich durchstehe, mit jedem blöden Kommentar oder Blick, den ich bekomme, lerne ich, dass es okay ist, nicht okay zu sein.

Es ist okay, Pausen zu machen, wenn ich gerade keine Kraft habe. Es ist okay, eine schlechte Note zu schreiben, weil ich mich nicht auf das Lernen konzentrieren konnte. Es ist okay, dass ich die Klasse wiederhole, weil ich einen längeren Klinikaufenthalt hatte. Ich muss niemandem etwas beweisen. Das ist der wichtigste Schritt: zu erkennen, dass es okay ist, nicht okay zu sein, und dass man sich Hilfe holen darf, wenn es zu viel ist.

Hilfe für Betroffene und Angehörige:

Krisentelefon der „Telefonseelsorge“: 0800 1110111 und 0800 1110222

Info-Telefon Depression der Stiftung Deutsche Depressionshilfe: 0800 3344533

Nummer gegen Kummer – Kinder- und Jugendtelefon: 116 111

Nummer gegen Kummer – Elterntelefon: 0800 111 0550

Diskussionsforum Depression: www.diskussionsforum-depression.de

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