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Foto: picture alliance / ZUMAPRESS.com / Denis Thaust

Über die Meinungsfreiheit – nicht nur in Frankreich

Samuel Paty musste sterben, weil er gesagt hat, was er dachte. Deshalb geht der Mord an dem französischen Lehrer alle an.

Leonore (16)

Montag, der 2. November 2020. 11.15 Uhr, und Ruhe herrscht im Klassenzimmer. In jedem Klassenzimmer Berlins, Deutschlands, Europas ist es still. Denn die Schülerinnen  Europas schweigen für Samuel Paty, der am 16.10.2020 sein Leben lassen musste. Warum musste Samuel Paty sterben? Weil er für die freie Meinungsäußerung stand.

Samuel Paty war 47 Jahre alt, als er nach einem Unterrichtstag im Lycée in Conflans-Sainte-Honorine auf offener Straße ermordet wurde. Der Lehrer hatte in den vorangegangenen Wochen mit seinen Schülerinnen im Unterricht über Meinungsfreiheit gesprochen. In diesem Zusammenhang hatte er Karikaturen des islamischen Propheten Mohammed gezeigt, die 2012 Jahren in der Zeitschrift „Charlie Hebdo“ veröffentlicht worden waren und seitdem immer wieder für Aufmerksamkeit gesorgt hatten. Die Karikaturen dienten Terroristen als Anlass zu Anschlägen in Frankreich und führten zu einer weltweite Diskussion über Religions-, Meinungs- und Pressefreiheit.

Kernpunkt dieser Auseinandersetzungen ist das konfliktreiche Verhältnis, in dem sich die Regeln und Normen der islamischen Religion und die Prinzipien der Meinungsfreiheit befinden. Während verschiedene islamische Glaubensrichtungen verbieten, den Propheten Mohammed abzubilden, ist die Meinungsfreiheit in Frankreich schon seit 1789 „un des droits les plus précieux de l’Homme“ („eines der kostbarsten Menschenrechte“).

So kommt es, dass islamistische Terroristen 2015 gewalttätige Angriffe auf die Redaktion des Magazins „Charlie Hebdo“ verübten, weil das Satire-Magazin Karikaturen von Mohammed veröffentlicht hatte. Dieselben Karikaturen, die Samuel Paty seinen Schülerinnen gezeigt hatte, um mit ihnen über Meinungsfreiheit zu sprechen. Doch der radikale Islamismus stellt – im Gegensatz zur überwältigenden Mehrheit der Muslime – die religiösen Normen des Islam über staatliche Werte und schreckt auch nicht vor Gewalt zurück.

Samuel Paty geriet geradezu zwangsweise in einen Konflikt mit religiös motivierten Radikalen. Als Lehrer und somit Angestellter der République française gehört es zu seinen Aufgaben, die Bürger- und Menschenrechte, die in Frankreich wie in Deutschland gelten, zu lehren und sie vorzuleben. Die Meinungsfreiheit ist ein wichtiger Bestandteil dieser Rechte, über ihre Bedeutung hat Paty junge Französinnen aufgeklärt. Zugegeben, dies am Beispiel der Mohammed-Zeichnungen aus „Charlie Hebdo“ zu tun, ist eine provokante Lehrmethode. Aber die Karikaturen aus dem Satire-Magazin sind das prägnanteste Beispiel aus den letzten Jahren, an dem in der Öffentlichkeit umfassend und kontrovers über das Spannungsverhältnis zwischen Religion und Meinungsfreiheit diskutiert wurde. Paty hatte sogar versucht, den Konflikt zu entschärfen und allen Schülerinnen freigestellt, an der besagten Unterrichtsstunde teilzunehmen. Doch noch am selben Abend begann der Vater einer Schülerin in den sozialen Netzwerken eine Kampagne gegen Paty und warf ihm Islamophobie vor.

10 Tage später war der Lehrer tot. Am 16.10.2020 gegen 16.30 Uhr stach der Täter Abdulach Abujesidowitsch Ansorow mehrmals auf den Bauch und die Arme des Lehrers ein und enthauptete ihn schließlich mit einem 35 Zentimeter langen Messer. Mit Samuel Paty starb auch der Glaube an die uneingeschränkte Meinungsfreiheit – nicht nur in Frankreich.

Dass Paty aufgrund freier Meinungsäußerung das Opfer eines Mordes wurde, sollte in dem Land, in dem die Bürger- und Menschenrecht nach einer blutigen Revolution im Jahr 1789 erstmals formuliert wurden, nicht vorkommen. Für viele Menschen in Deutschland und Europa ist die Meinungsfreiheit selbstverständlich geworden. Jede, so scheint es, kann immer sagen, was sie denkt – auch gerade in der Schule. Sei es, für eine kontroverse, unzensierte Zeitung zu schreiben. Sei es, eine solche zu lesen. Seien es soziale Medien, in denen unzensiert und ungefiltert veröffentlicht und gelesen werden kann. Seien es kritische Äußerungen, die im privaten Raum oder auf öffentlichen Demonstrationen getätigt werden. Und gerade Lehrkräfte sollten dieses Recht vorleben und vermitteln.

Doch das Attentat von Conflans-Sainte-Honorine und andere Attacken machen deutlich, dass es sich beim Menschenrecht der Meinungsfreiheit doch nicht um eine Selbstverständlichkeit handelt. Es ist erschreckend genug, dass solche brutalen Vorfälle in Diktaturen geschehen, in denen die Meinungsfreiheit längst ausgehebelt ist. Aber noch viel erschreckender ist es, dass so etwas in Frankreich, einer Jahrhunderte alten, europäischen Demokratie passieren kann. Es ist nicht absehbar, welche Folgen dieser und andere Anschläge auf das Demokratieverständnis der Französinnen haben wird. Sicher ist aber, dass die Meinungsfreiheit in Frankreich ein aktuell heiß diskutiertes Thema ist. Zu dem Anschlag auf Paty kommt die Diskussion über einen neuen Gesetzesentwurf. Das Gesetz soll Journalistinnen verbieten, Videos oder andere Aufnahmen zu veröffentlichen, die Szenen von öffentlichen polizeilichen Eingriffen zeigen. Auch hier wird von den Medien die Frage nach der Meinungsfreiheit aufgeworfen, die nun umso mehr in die öffentliche Aufmerksamkeit rückt.

Die aktuelle Lage in Frankreich zeigt auch uns, dass eine Demokratie nicht automatisch alle Formen von Verfolgung und Gewalt verhindert. Wenn der Mord an Samuel Paty einen Sinn gehabt haben soll, dann den, allen Menschen in Frankreich, in Europa, auf der ganzen Welt noch einmal vor Augen zu führen, wie fragil unsere Demokratie und die mit ihr verbundenen Werte sind. Sie zu erhalten, verbessern und voranzutreiben ist eine zentrale Aufgabe der jungen Generation. Junge Menschen vor allem müssen die universellen Menschenrechte verteidigen und für sie einstehen. Deshalb ist es wichtig, dass schon in der Schule Demokratie und Meinungsfreiheit gelehrt und gelebt wird. Deshalb ist es wichtig, dass sich Schülerinnen in öffentlichen Debatten und Medien unzensiert äußern können. Deshalb war es am Montag, den 2. November 2020, um 11.15 Uhr still im Klassenzimmer.

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