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Foto: picture alliance / Schoening | Schoening

Was bin ich: deutsch oder türkisch?

Was macht ein Land aus, was den Menschen? Ich bin in beiden Kulturen aufgewachsen, aber wo bin ich zuhause?

Amira (18)

Ich sitze auf der Couch im Wohnzimmer, es ist Zeit fürs Gebet. Die Stimme des Muezzins klingt blechern, meine Tante hat bereits ihren Teppich auf dem Boden ausgebreitet. Der Fernseher ist an, ein türkischer Nachrichtensender läuft. Wenn mein Vater aus seinem Geschäft in der Altstadt von Side, Antalya, nach Hause kommt, werden wir zu Abend essen. Tante hat schon alles vorbereitet, heute gibt es Dolma. Die gefüllten Paprika sind eines meiner Lieblingsgerichte. Genau in dem Moment, als die Stimme des Muezzins verstummt, höre ich den Schlüssel im Schloss, die Eingangstür wird geöffnet und fällt wieder zu. Ich bin zuhause, ruft mein Vater, und meine Tante beendet das Gebet und beginnt das Abendessen herzurichten. Nach und nach versammeln wir uns alle in der Küche, ich decke den Tisch und schenke uns allen Wasser ein.

Nur manchmal gibt es einen Aufhänger für eine Unterhaltung, eine Situation, ein Erlebnis, das jemand teilt, eine Frage, die alle interessiert und die für kurze Zeit etwas Leben an den Tisch bringt. Aber meist essen wir in Stille. Fühlen sich auch die anderen dabei so unwohl wie ich? Ist es eine Form der Dankbarkeit, dieses bewusste und nachdenkliche Essen? Oder nur eine Gewohnheit, die ich nicht verstehe, weil ich eben doch nicht hier aufgewachsen bin und manche Dinge nur halb oder gar nicht verstehe. Ich weiß es nicht, und ich habe mich nie getraut zu fragen.

In der Türkei ist es schwierig mit Ironie.

In Deutschland wird am Tisch gelacht und gewitzelt, es geht genauso um den Alltag, aber eben um dessen Details. Wir sprechen über Kleinigkeiten und über Gefühle und Wünsche, über Intuition und Motivation. In der Türkei sprechen wir über Allgemeines, Kleinigkeiten werden nicht erwähnt, und wenn ich mal ausführlicher über meinen Alltag spreche, wird es ruhig im Raum und ich bekomme das Gefühl, als spräche ich mit einer Wand, nicht mit meiner Familie. In der Türkei ist es schwierig mit Ironie; Witze werden oft auf eine Art und Weise gemacht, die so schwer zu erklären ist, dass ich sie selbst kaum nachvollziehen kann.

Meine Tante fragt meinen Vater nach seinem Tag. Er erklärt, wie das Geschäft gelaufen ist, wie viel er verkaufen konnte, ob die Altstadt gut besucht war, und er spekuliert, ob das schlechte Wetter womöglich dazu beigetragen haben könnte, dass die Touristen heute weggeblieben sind. Alles ganz normal für meinen Alltag hier, und doch frage ich mich, warum mein Vater nicht auf die Frage von Hala antwortet. Oder liegt es daran, wie ich die Frage wahrgenommen habe? Interessiert es meine Tante eigentlich gar nicht, wie sich mein Vater gefühlt hat, was ihm heute passiert ist? Hat sie wirklich nur nach dem gefragt, was mein Vater ihr gerade erzählt? Oder ist mein Wunsch, diese doch viel interessanteren Dinge von ihm zu erfahren, nur Ergebnis meines Aufwachsens in Deutschland? Ich habe immer noch nicht verstanden, ob es typisch für die türkische Kultur oder nur typisch für meine Familie ist, nur die halbe Wahrheit zu erzählen, wenn man gefragt wird: Wie geht es dir?

ist es zu viel verlangt, wissen zu wollen, wie es Freunden geht?

Wie geht es dir, fragen wir bei jedem Telefonanruf, bei jedem Treffen, nach jedem Tag, wenn wir nach Hause kommen – und werden es direkt zurückgefragt. Die Antwort? Ist immer dieselbe: gut. Alles gut, alles klar, alles passabel. Manche erzählen, was sie den Tag über gemacht haben, womit sie ihre Zeit verbracht haben. Ich liebe die Türkei und ich liebe ihre Menschen. Aber ist es zu viel verlangt, wissen zu wollen, wie es meinen Verwandten und Freunden geht?

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Wir stehen vor dem Döner, in dem meine Freunde am liebsten essen. Ein kleines schmales Geschäft in der Einkaufsstraße der Stadt, umrahmt von Friseuren mit Bildern von blonden und rothaarigen Models im Schaufenster, der Filiale einer Buchladenkette, die deutsche Klassiker in der Auslage präsentiert, Kochbücher und die Biografie eines Mitglied der englischen Königsfamilie. Hätte ich mir den Take-away-Laden aussuchen können, wäre meine Wahl sicher nicht der Döner gewesen. Aber meine Freunde freuen sich schon seit zwei Stunden auf die Dönerbox, und ich bringe es nicht übers Herz, ihnen die Mittagspause zu verderben. Türkisches Essen ist einfach das beste, sagt meine Freundin. Sie wippt voller Vorfreude auf ihren Fußballen und schaut mich erwartungsvoll an. Ich schenke ihr ein sarkastisch gemeintes Grinsen, aber der Sarkasmus entgeht ihr, denn sie schnauft nur belustigt. Dann ist sie dran, tritt an die Theke voller Zutaten, die alles andere als typisch türkisch sind. Sie bestellt eine Dönerbox und zeigt auf nahezu alles, was die Theke zu bieten hat. Und seien sie nicht sparsam mit der Soße, fügt sie hinzu und grinst mich voller Stolz an, als wäre das Maß an Soße, in dem sie ihr Essen ertränkt, ausschlaggebend dafür, wie türkisch ihre Mahlzeit werden wird.

Als die beiden hinter der Theke mich fragen, ob ich auch eine Dönerbox möchte, schüttle ich nur den Kopf.

Besser eine komplett andere Kultur als einen Abklatsch.

Eigentlich würde ich lieber asiatische Nudeln essen. Besser eine komplett andere Kultur, bei der ich die Originalität des Essens nicht überprüfen kann, als einen Abklatsch von Rezepten, mit denen ich schon verwöhnt wurde. Aber ich sage, ich hab doch vorhin in der großen Pause schon gegessen. Das ist eine Notlüge, aber besser, als meinen Freunden zum x-ten Mal erklären zu müssen, was sie natürlich längst wissen: Dass der Döner, so wie er hier angeboten wird, eine deutsche Erfindung und nur türkisch inspiriert ist. Aber ein wenig wundert es mich schon, warum der Fleischspieß mit Salat dann doch das einzige ist, was meine Freunde von türkischem Essen wissen wollen.

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Mein Vater steht auf, um das Radio im Wohnzimmer auszuschalten. Als er zurückkommt, hat meine Tante doch noch ein Gesprächsthema entdeckt. Sie findet, dass der Türkei als Staat mehr Respekt entgegengebracht werden müsste. Sie sollte von der Welt nicht mehr als unterentwickeltes Urlaubsland gesehen werden, nicht bloß als Land mit schönen Stränden, aber einer nicht sonderlich gebildeten Bevölkerung, deren Gedanken der Islam beherrscht. In Europa, sagt meine Tante, glauben die Menschen doch, wir würden hier unterdrückt. Aber unser Präsident, sagt sie, der arbeitet daran, die Türkei aus diesem Käfig von Vorurteilen herauszuführen – und stimmt den Methoden, die er dazu verwendet, von ganzem Herzen zu. Mein Vater schüttelt den Kopf, er ist ganz anderer Meinung, der Präsident ist für ihn jemand, der der Türkei schadet. Nun wird meine Tante fast wütend: Wie könne mein Vater, ihr Bruder, nur so schlecht über seine Regierung sprechen, denn damit beleidige er auch seine Kultur.

Wo stehe ich in diesem Konflikt? Die Türkei ist kein unterentwickeltes Urlaubsland, so viel ist klar, aber sind Kultur und Regierung und Land denn dasselbe? Sollte man das alles nicht besser voneinander trennen? Sind das eine nicht die Menschen, die mit ihren Bräuchen und Ritualen schon so lange hier leben, und das andere … Ja, was macht ein Land aus, wenn nicht dessen Kultur?

Wenn ich die Türkei liebe, verrate ich dann Deutschland?

Ich stelle ich mir Kultur und Land vor wie einen Baum mit seinen Knospen. Der Baum kann ohne die Knospen nicht überleben, aber die Knospen würden ohne den Baum gar nicht erst existieren. Natürlich sind Kultur und Land nicht voneinander zu trennen, aber dennoch nagt die Frage an mir, denn solange ich sie nicht beantwortet habe, kann ich in Diskussionen wie dieser keine Stellung beziehen. Nichts zu sagen ist manchmal dasselbe wie Zustimmung, aber zustimmen kann ich doch erst, wenn meine Frage geklärt ist. Immer trage ich diese Frage mit mir herum, ich drehe und wende sie, stelle sie auf den Kopf und zurück auf die Füße, aber ich finde keine Antwort. Wenn ich die Türkei liebe, muss ich dann alles an ihr lieben, bedingungslos? Oder darf es Dinge geben, die ich verändern will, so verändern, dass sie europäisch werden? Was bedeutet es eigentlich, ein Land zu lieben? Wenn ich die Türkei liebe, verrate ich dann Deutschland? Und wenn ich in der Türkei europäisch denken will, ist es dann überhaupt noch die Türkei, bin ich dann überhaupt noch türkisch? Bin ich eigentlich von beidem gleich viel? Oder mehr von dem einen und weniger von dem anderen? Bin ich christlich oder muslimisch geprägt? Bin ich europäisch oder irgendetwas dazwischen? Ja, was bin ich denn nun. Bin ich eigentlich deutsch oder türkisch?

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