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Scheiße ich bin jung
Foto: picture alliance / Westend61 | Westend61 / Roman Märzinger

Scheiße, ich bin jung!

Alt wird man von ganz allein, aber Jungsein ist auch kein Spaß. Ein Poetry-Slam-Text

Anastasia (16)

Scheiße, ich bin jung. Dabei sagen alte Menschen so oft, Teenie-Jahre seien die besten deines Lebens. Und ich würde gerne zustimmen, um zu wirken, als wäre ich meinem Alter voraus und wüsste, wie sich das anfühlt, alt zu sein. Ich hab ja auch oft Rückenschmerzen.

Scheiße, ich bin jung. Nicht mehr und nicht weniger. Ich bin laute Musik hinter verschlossenen Türen – hinter zugeknallten Türen. Ich bin tiefste Bewunderung für einen anderen Menschen, weil er oder sie unterdurchschnittlich oft sexistische Witze macht. Ich bin zu viel Geld für Schrott und Schrott (aber zum Anziehen) ausgeben, ich bin tagelang nicht duschen (was mir für die erste Reihe sehr leidtut). Ich bin irrationale Denkmuster, ich bin die Gelegenheit meines Lebens allein aus Bitterkeit ablehnen. Ich bin von Sonntag auf Montag durchmachen, ich bin saufen können, ohne danach drei Tage lang im apathischen Grippezustand zur Arbeit zu wanken. Und ich bin arbeitslos.

Scheiße, ich bin jung. Ich habe keine Ahnung von Arbeiten, Bürgertum oder Steuern, und irgendeine Person auf Twitter schreibt, sie könne das auch nicht, „aber ‘ne Gedichtanalyse schreiben in vier verschiedenen Sprachen, haha lol, diese Gesellschaft hat inzwischen unerreichbare Standards an Menschen und Zwischenmenschliches gestellt, ich stehe jeden Tag unter lebensfeindlichen Mengen Stress und bin viel zu paralysiert, um damit vernünftig umzugehen und mache mich deshalb zum Spielball jeder Menge Witze im Internet“ – und das liken 10.000 Menschen, und ich denke allein schon aus Trotz: „Halt einfach deine Fresse!“

Scheiße, ich bin jung. Ich habe niemand Geliebtes oder er sein Bein an den Russen verloren. Ich habe nur Freunde, die ihre Seele für eine Ausbildung bei der Bundeswehr verkauft haben, weil sie sich dann keine Sorgen um steigende Mieten machen müssen.

Scheiße, ich bin jung. Ich bin jeden Tag von dem Wissen gequält, dass ich mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit einfach noch extrem dumm bin. Ich bin verantwortungslos und unselbstständig und alte Menschen sagen, dass ich akzeptieren soll, dass es im Leben immer nur um Sex und Geld geht und dass niemand was daran ändern kann, sogar wenn unsere Gesellschaft an allem Schuld hätte, was in der Gesellschaft schief geht, und dass Frieden mit dem Establishment zu schließen ein wichtiger Aspekt des Erwachsenwerdens ist, und dabei will ich doch nur, dass meine Periode endlich wieder regelmäßig kommt.

Scheiße, ich bin jung, egal, was ich von mir gebe, ich hab immer „nur meine Tage“,
bin nur Hormon-Gehirngewebe,
werd ich jemals Frau der Lage?
Ich bin Fragen nach dem Sinn des Lebens und noch mehr so Hippie-Kram
und schlechte Poesie.
Antwort gibt es ja genug und wunderschön ausformuliert,
dass es auch für alle passt,
so‘n Geheimnis, decouvriert,
das steht gut, das steht für was.
So, so viel, was andere schon dachten,
und so, so wenig, was wir daraus machten,
denn fundamental wissenschaftlich ist Philosophie,
aber Kiffen in der Weihnachtszeit heißt dann Blasphemie. Ich wär allzu gerne dankbar
für was vor uns keiner hatte,
dass ich erkennʼ kann, was die Welt
im Innersten zusammenhält.
Und siehe da: es ist Mathe.
[Du sagst der Krach geht auf die Nerven?
Ok Boomer, kein Problemchen.]
Ich komm und zeig, was Hunger ist,
geb dir alles, was du körperlich
nur begehren könntest, ich
sag: „Dein Streben kann auch ohne dich,
das ganze Heulen lohnt sich nicht,
Brudi, nenn mich Belastopheles.“

Der Sinn des Lebens besteht darin, deinem Leben einen Sinn zu geben.“ Wow, danke, alte Person, welch Hilfe, was hätte ich bloß ohne diese deiner Erkenntnisse getan? Besonders gern geben nämlich mit mir verwandte alte Menschen ihren Senf dazu, aber über X Ecken bin ich schließlich safe auch irgendwie mit der Spezies Hefe verwandt, und allein diese Tatsache beruhigt mich schon um einiges mehr, als whatever die versuchen von sich zu geben.

Scheiße, ich bin jung. Unverbesserlich idealistisch und schnell enttäuscht und leicht zu begeistern. Meine Freunde und ich wollen den Planeten retten. Aber alte Leute sagen, wenn wir nicht wissen, was ein Stift und eine Kassette miteinander zu tun haben, können wir gerne weiter träumen. Aber genau darüber macht sich dann Ralph Ruthe lustig, und wenn der nicht alt ist, können die Eisbären ja gerne krepieren.

Meine Freunde und ich haben Philipp Roth zwanzig Jahre danach gelesen.

Scheiße, ich bin jung. Nicht Carl Jung, aber ich würde gerne etwas von den Alten lernen können, aber dann sagt wieder der bärtige Spätzwanziger in mir, manche Erfahrungen müsse man einfach selber machen. Aber erlernte Fähigkeiten haben ja die Evolution abgelöst, und das haben wir so in der Schule gelernt, also wird das doch was heißen!

Scheiße, ich bin jung und hab noch so viel zu lernen, aber was überhaupt und wofür überhaupt und wer sagt denn überhaupt, dass mir junge Leute, wenn ich mal alt bin, genauso viel werden beweisen müssen? Und was ist Erwachsenwerden überhaupt für ein Scheißkonzept? Mein Leben war viel einfacher, als noch nicht alle ständig von Alter geredet haben. Warum geht das denn nicht einfacher? Oder bin ich wieder zu ungeduldig?

Scheiße,
da muss es doch was geben, was für dich die Wege geht, weil Rockstar XY dich als einziger versteht,
etwas, das dir Halt gibt
und etwas, um dir Zeit zu geben,
also, ja, nur irgendwie
muss man das halt selbst erleben.
Scheiße.

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